Krankheitsbild oder Klassenclown
Kinder wollen die Welt entdecken. Der Bewegungsdrang ist je nach Veranlagung unterschiedlich. Im schulischen Alltag werden extrem hyperaktive Kinder oft als störend empfunden, umso mehr wenn damit Unaufmerksamkeit verbunden ist. Schnell steht die Diagnose fest: ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Syndrom. Lehrer sehen den Ablauf des Unterrichts gestört durch einzelne verhaltensauffällige Kinder. Der Gang zum Arzt endet meistens mit der Verschreibung des Medikaments Ritalin, einem umstrittenen Beruhigungsmittel mit Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Depression.
Die Ergotherapeutin Jana Oppermann warnt: „Man muss sich zunächst die Frage stellen, ob ein Krankheitsbild vorliegt oder ob es sich um ein lebhaftes Kind handelt. Eine voreilige medikamentöse Behandlung ist in jedem Fall fragwürdig und für die Entwicklung der Fähigkeiten des Kindes schädlich“. In der Tat macht der sprunghafte Anstieg von ADHS-Diagnosen misstrauisch. Anfang 2013 veröffentlichte die Barmer GEK Krankenkasse einen Bericht, dem zufolge die Zahl der zwischen 2006 und 2011 diagnostizierten ADHS-Fälle um 42 Prozent gestiegen seien. Dies schürt die Annahme, dass die Diagnose ADHS zu leichtfertig und oft fälschlicherweise gestellt wird. Jana Oppermann sieht das differenziert: „Das Krankheitsbild ADHS ist wissenschaftlich erforscht und muss behandelt werden. Die Frage ist, ob man immer mit einer pharmazeutischen Keule eingreifen muss.“ Die Ergotherapeutin, die in ihrer Praxis in Brandenburg Patienten jeden Alters mit physischen oder psychischen Problemen behandelt, sieht andere Wege: „Zunächst muss geklärt werden, ob der Bewegungsdrang nicht auf ein besonderes tänzerisches oder musikalisches Talent hinweist oder seine Ursache in einer Langweile aus Unterforderung hat“. Selbst wenn es sich eindeutig um ADHS handelt, kann die Ergotherapie ohne den Einsatz von Medikamenten das Problem mit verhaltenstherapeutischen Massnahmen in den Griff bekommen.
Modekrankheit und Geschäft der Pharmakonzerne
Die Verschreibung von Ritalin boomt. Im August 2013 veröffentlichte die gesetzliche Krankenkasse KKH-Allianz die Ergebnisse einer Auswertung, wonach sich in nur vier Jahren die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, die mit Ritalin oder ähnlichen Arzneimitteln behandelt werden, um über 50 Prozent erhöht habe. „Es liegt die Vermutung nahe, dass zu viele Kinder mit den Wirkstoffen ruhig gestellt werden sollen und dies über längere Zeiträume“, sorgt sich Jana Oppermann.
Dabei existieren auch psychotherapeutische und heilpädagogische Therapieansätze wie beispielsweise die Verhaltens- oder die Bewegungstherapie. Jana Oppermann erläutert: „Es geht um die Informationsübertragung im Gehirn. Ergotherapeutische Behandlungen greifen nicht chemisch in die Informationsübertragung des Gehirns und in dessen Dopaminhaushalt ein, sondern über Bewegung, Beschäftigung und Konzentration. Ergotherapie ist ein wichtiger Baustein in der Behandlung von ADHS-Kindern. Mit Hilfe verschiedener Methoden lernen die Kinder, sicih mit sich selbst und in ihrer Umwelt besser zurechtzufinden, ohne chemische Stimulanzien“.
Wie sieht ein ergotherapeutischer Ansatz konkret aus? Jana Oppermann nennt Beispiele: „Kinder lernen in Rollenspielen den Umgang miteinander besser verstehen, die Gefühle und Handlungen anderer besser einzuschätzen. Musik und gestalterische Arbeiten sind ein wirkungsvolles Hilfsmittel.“ Eine erfolgreiche Behandlung muss die Umgebung der Kinder einbeziehen: Eltern, Therapeut und Kind müssen zusammenarbeiten, damit das Problem dauerhaft beseitigt wird.